Als Jude im Nachkriegs-Deutschland

Die junge Bundesrepublik machte es den mittlerweile rund 20 000 Juden – etliche waren unterdessen aus Israel und anderen Ländern zurückgekehrt, weil sie dort nicht Fuß fassen konnten oder weil sie sich erhofften, in Deutschland zumindest wirtschaftlich eine bessere Zukunft zu haben – nicht schwer, sich fremd zu fühlen. Die so genannte Entnazifizierung, die Kriegsverbrecherprozesse, die schnelle Wiedereingliederung von Nazis, die angeblich nur harmlose Mitläufer gewesen waren, und dann – Symbol dieser politischen Haltung – der Aufstieg des ehemaligen Kommentators der Nürnberger Rassengesetze, Hans Globke, zum engsten Mitarbeiter Bundeskanzler Adenauers, waren Zeichen genug dafür, dass man glauben konnte, dieses Land würde sich nie ändern, es würde immer ein Volk von Antisemiten bleiben.

Aber der Alltag ging weiter. Der nackte Kampf ums wirtschaftliche Überleben. Allenthalben wurden Jüdische Gemeinden neu und wieder gegründet, Synagogen restauriert und wieder eingeweiht. Das religiöse, jüdische Leben in Deutschland begann wieder, schließlich hielt man an seinen Traditionen fest, und die Kinder mussten doch das Erbe weitertragen lernen. Sie waren die Zukunft, und wenn sie nicht als ordentliche jüdische Kinder erzogen würden, was dann? Wozu dann weiterleben? (…) Und die Kinder wuchsen heran in einer doppelten, in einer gespaltenen Welt. Was bedeutete: in deutschen Schulen zu lernen, aber nur mit jüdischen Kindern befreundet zu sein. Nicht aufzufallen, sich anzupassen, damit niemand merkt, dass man Jude ist, aber dennoch seine Jüdischkeit nicht aufzugeben, Jude zu bleiben, Jude zu sein – was immer das im Einzelnen bedeutete…

Wie kann man als Jude nur in Deutschland leben? Diese Frage wurde dem kürzlich verstorbenen Psychoanalytiker Sammy Speyer aus Frankfurt in zahlreichen Vorträgen, die er im ganzen Lande hielt, von Deutschen immer wieder gestellt. Er antwortete darauf stets mit der Frage: »Und Sie, wie können Sie in Deutschland leben?« Denn der Irrsinn des Holocaust betrifft nicht nur uns Juden, sondern natürlich auch das Volk der Täter und deren Nachkommen…

Paul Spiegel, 2003


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